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Beitrag vom 24.07.2025
Mahnerin wider das Vergessen und Verdrängen
Eluise Groszkopf
Zum Tode der Schriftstellerin und Verlegerin Dr. h.c. Tilly Boesche-Zacharow. 2016 wurde ihr das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für "ihr herausragendes Verlagsprogramm und ihre langjährige Arbeit für die exilierten jüdischen Autorinnen und Autoren" verliehen. Am 19. Juni 2025 ist sie im Alter von 98 Jahren in Berlin gestorben.
Tilly Boesche-Zacharow gründete 1980 – gemeinsam mit ihrem Sohn – den Mathilde & Norbert Boesche Verlag Berlin. Noch im gleichen Jahr verlegte sie ihren Zweitwohnsitz zunächst nach Tel Aviv, später in die israelische Hafenstadt Haifa. Von dort aus publizierte sie bis 1990 die Zeitschrift "Silhouette – Literatur International", sowie von 1990 bis 1995 das Journal "Schattenriß".
Seit 1989 trug der Verlag neben dem Ortssitz "Berlin" den Ortszusatz "Haifa" im Namen. Tilly Boesche-Zacharow, von allen respektvoll "TBZ" genannt, engagierte sich fast 50 Jahre in außerordentlichem Maße für die Wahrnehmung deutsch-jüdischer Literatur.
Bald nach ihrer Ankunft in Tel Aviv lernte die Berliner Autorin und Verlegerin den Journalisten und ersten Vorsitzenden des Verbands deutschsprachiger Schriftsteller (VdSI), Meir Marcel Faerber, kennen und engagierte sich fortan sehr für ihre israelische Kollegenschaft.
Die leidenschaftliche Verlegerin garantierte dem VdSI, der sich erst spät (1975) gründen konnte, eine Plattform zur Veröffentlichung. Gelesen und somit gehört zu werden – insbesondere in Deutschland – war für viele Mitglieder des Verbands spät befreiend. Nach Schalom Ben-Chorin hieß das: "Aus einem Land kann man auswandern, aus einer Muttersprache nicht." – Genau in diesem Dilemma befanden sich die exilierten deutschsprachigen Autorinnen und Autoren in Israel über lange Jahre, denn die deutsche Sprache war Jahrzehnte hindurch verpönt.
Zu den Autorinnen und Autoren, deren literarische Texte "TBZ" publizierte, gehörten nicht nur Jenni Aloni, die heute als eine der bedeutendsten Autorinnen der deutschsprachigen Literatur Israels gilt, sondern auch die resolute Agentin und Pionierin Ruth Zucker und die famose Dichterin Lola Landau, sowie die Herausgeberin der einzigen deutschsprachigen Zeitung in Israel, Alice Schwarz-Gardos, und natürlich der eng mit ihr befreundete Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin.
Die Verlegerin förderte Talente wie z.B. den Dichter Carl Stern aus Jerusalem. Über dessen Leben schrieb Boesche-Zacharow die 1998 erschienene Biografie "Ich bin der Welt abhanden gekommen", welche sich auf Berichte, Notizen und Tagebucheinträge des Dichters stützt, der ein guter Bekannter der deutsch-jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler war.
In den 1980er und 1990er Jahren veranstaltete Tilly Boesche-Zacharow kontinuierlich "literarische Teatimes" in ihrem Haus in Berlin-Frohnau. Nimmermüde organisierte sie für "ihre" Autor: innen immer neue Vortragsorte in Berlin.
Nach Auflösung des VdSI im Jahre 2005 (angesichts der Betagtheit seiner Mitglieder) legte "TBZ" im Jahre 2006 – infolge ihrer Verbundenheit mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen – eine Dokumentation zum VdSI vor. Der trotzende Titel: "Nicht das letzte Wort".

Auch hat Boesche-Zacharow, die mit einer Ehrendoktorwürde der World University in Benson, Arizona ausgezeichnet war, zwei sehr persönliche Erzählbände mit jüdischen Schicksalswegen unter der Nazi-Diktatur veröffentlicht ("Pintus von Seehausen", 2001 und "Vom Hören zum Sagen", 2013).
Im Jahre 2016 entstand eine Hör-Edition mit dem Titel "Wenn das Frau Pazi sieht, fliegen wir beide aus dem Verband". Ein Ausspruch Ben-Chorins gegenüber Boesche-Zacharow, der sich auf die 2. Verbandsvorsitzende des VdSI, Frau Dr. Margarita Pazi (der erste Vorsitzende, Meir Marcel Faerber, war 1993 verstorben) bezog. Für die CD, mit wunderschönem Booklet, wählte die Verlegerin aus den von ihr herausgegebenen Literaturzeitschriften der 1980er und 1990er Jahre erneut Gedichte aus, die sie u.a. auch selbst auditiv einsprach. 19 jüdische Lyrikerinnen und Lyriker, allesamt Opfer der Shoah, erzählen "verdichtet" vom Schrecken des Nationalsozialismus.
Diese Gedichte sollen, so die Verlegerin im Geleitwort, "als Mahnung wider das Verdrängen und Vergessen des von deutschem Boden ausgegangenen Völkermoders des 20. Jahrhunderts verstanden sein". Boesche-Zacharow war auch die Herausgeberin und Co-Autorin von "Liebe Grüße an Frl. Ilse" und "Ich denke oft an Onkel Franz". In diesen Druckwerken ging sie gemeinsam mit ihrem Sohn Norbert Boesche (Avigdor Ben Trojan) auf jüdische Spurensuche in Berlin-Frohnau, Berlin-Hermsdorf und Umgebung. Das Verlegergespann hinterfragte hier, was aus den jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn geworden war, die das NS-Regime ab den 1930er Jahren verfolgt, deportiert und – nach der Wannseekonferenz und der "Endlösung der Judenfrage" – in Konzentrationslagern systematisch ermorden ließ.
Bevor Tilly Boesche-Zacharow Verlegerin wurde, war sie seit 1950 freiberufliche Schriftstellerin. Im Alter von 22 Jahren schrieb sie ihren ersten Roman "Doktor Holms zweite Liebe" und veröffentlichte ihn im Erich Arndt Verlag. In den folgenden Jahren schrieb sie über 280 Unterhaltungsromane für Bastei-Lübbe, Kelter und den Pabel Verlag, sowie einige Kinderbücher (u.a. "Der erste Tag in Mellenberg", "Ralf beißt sich durch").
Entschlossen studierte sie in den 1960er Jahren Religionswissenschaften und schrieb Sachbücher ("Auf dem Thron Petri: Staffellauf der Päpste", "Seit eh und je"). In den 1970er Jahren dann spähte Boesche-Zacharow schlüssig ihre "Darüber hinaus"-Fähigkeiten aus, und es entstanden 8 Lyrikbände (u.a. "Frohnauer Facette", "Reflexe einer Position"), sowie Aphorismen und Gedichte.
"Nur der Schwache wappnet sich mit Härte. Wahre Stärke kann sich Toleranz, Verständnis und Güte leisten." (TBZ)
Mit ihrer langjährigen Erfahrung unterstützte und förderte sie in ihren späten Jahren auch digitale Bibliotheksprojekte, z.B. LiteratPro, das sie 2011 online mit ins Leben gerufen hatte. Für jüngere Kolleginnen und Kollegen redigierte sie Manuskripte und schrieb Vorworte (z.B. "Die haben ihre Methoden – wir die unseren, Mr. Stringer": Dame Margaret Rutherford – Auf den Spuren von Miss Marple, 2009). Aus dem Mathilde und Norbert Boesche Verlag heraus (ihr Sohn Norbert Boesche aka Avigdor Ben Trojan war bereits im Jahre 2002 verstorben) stellte TBZ die bei ihr verlegten Werke ihrer Autor: innen verschiedenen "Dichtungsplattformen" und Lyrik- Webseiten zur Verfügung. Sie scheute dabei keine – mitunter auch hartnäckige – Diskussion über Wortkunst und die Ausrichtung des jeweiligen Portals oder die Art der Präsentation "ihrer Literaten", die sie letztendlich ins digitale Zeitalter mitführen wollte.
Im Jahre 2016 wurde Boesche-Zacharow das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für "ihr herausragendes Verlagsprogramm und ihre langjährige Arbeit für die exilierten jüdischen Autorinnen und Autoren" verliehen.
Zu ihrem 90. Geburtstag im Jahre 2018 erschien ihr gegenwärtiger Gedichtband "Tag und Traum" in dem sich Boesche-Zacharow mit ureigener jugendlicher Daseinsfreude den Themen Leben und Lieben stellte und – in mal heiteren Reimen, mal ernsten Reimen - auch den damit verbundenen offenen Fragen zur Endlichkeit nachging. Sie schrieb: "Woher ich komme, werde ich erst wissen, wenn ich gegangen bin."
Noch mit weit über 90 Jahren arbeitete sie täglich rege an ihrem Notebook, sprühte vor Ideen und war begeistert von Social Media. Boesche-Zacharow, Jahrgang 1928 und im NS-Staat eingeschult und aufgewachsen, war niemals eine "ewig Gestrige". Sie war von tiefstem Herzen Schriftstellerin und Verlegerin wider das Vergessen und Verdrängen.
Ihre engagierte Rolle als Vermittlerin war durch Boesche-Zacharows einzigartige Persönlichkeit, ihre Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter und die Wertigkeit ihrer - im Mathilde und Norbert Boesche Verlag, Berlin - Haifa, erschienenen Bücher, Zeitschriften und CDs geprägt und garantiert.
Tilly Boesche-Zacharow ist am 19. Juni 2025 in ihrem 98. Lebensjahr nach einem erfüllten Leben im Literaturbetrieb in Berlin verstorben.
Ich höre, wie sie uns zuruft: "Schalom Chawerim!" – "Schalom, TBZ!"
Für Interessierte ist unter der Mailadresse eluise.groszkopf@t-online.de noch eine kleine Zahl der Höredition "Wenn das Frau Pazi sieht" verfügbar und bestellbar.

Copyright Fotos:
Fotostudio Steffi Rose, www.steffi-rose.de
Nachlass-Archiv, Ben Trojan